„Alles bleibt, aber anders.“

Ein Satz, der im Gedächtnis bleibt. Für das Wiener Architekturbüro Smartvoll ist er die Grundlage einer Denkweise, die den Bestand als Ressource erkennt – und Veränderung als Verantwortung wahrnimmt.

Das Team rund um die beiden Gründer Philipp Buxbaum und Christian Kircher fragt nicht: Was tun mit leerstehenden Industriebauten, versigelten Innenhöfen und brachliegenden Flächen? Sondern: Was, wenn man das nicht als Problem sieht, sondern als Einladung, es anders zu machen?

Seit 2013 arbeitet das international mehrfach preisgekrönte Architekturbüro an ressourcenschonenden, kreislauffähigen Entwürfen, die Ästhetik mit ökologischer Verantwortung vereinen. Ihr Fokus liegt auf Adaptive Reuse, auf Weiterbauen statt Neubau – und auf einer Haltung, die Veränderung als Chance begreift. Ein Gespräch mit Philipp Buxbaum über den Mut, nicht zu wissen, was hinter dem Horizont liegt, über Architektur, die nicht nur für Menschen gedacht werden sollte, und über die Frage, warum die Zukunft nicht aus Beton gegossen werden darf.

„Alles bleibt anders.“ – Der Claim von Smartvoll klingt nach Prinzip und Bewegung zugleich. Was bedeutet diese Haltung für Ihre tägliche Arbeit, Ihre Entwürfe und den Umgang mit Bestand und Veränderung?

Amerigo Vespucci gilt als der erste Renaissance-Mensch, weil er angeblich als erster den Mut hatte zuzugeben, dass er nicht weiß, was hinter dem Horizont liegt. Eine offen bekundete, von Neugierde angetriebene Unwissenheit war damals undenkbar. „Alles bleibt anders“ war zum Zeitpunkt unserer Gründung ein ähnliches Mantra. Einerseits anzuerkennen, dass wir uns wohl nie auf unserem Wissen und auf dem Etablierten ausruhen dürfen, und andererseits, dass genau diesem ständigen Flux eine unerschöpfliche Neugierde entspringt. Durch unsere Projekte im Adaptive Reuse und in der Bestandsnachnutzung hat sich mittlerweile eine zweite Schreibweise entwickelt: „Alles bleibt, aber anders.“

Adaptive Reuse ist von sich aus unberechenbarer als der Neubau. Welche Rolle spielen unvorhergesehene Herausforderungen in der Planung und im Bau-Prozess?

Im Bestand funktioniert der Planungsprozess nicht so linear und vorhersehbar wie im Neubau. Ein Projekt kann in Teilen beispielsweise noch oder schon wieder genutzt sein, während an anderer Stelle gerade erst ein Konzept erstellt wird, fast wie ein lebendiger Organismus, der immer am Leben gehalten wird. Das führt zwangsläufig zu komplexeren Abläufen und verlangt nach kreativen Lösungen. Unterkomplexe Bauaufgaben münden oft in eindimensionaler Architektur. Insofern sehen wir die Herausforderung als Triebfeder für vielschichtige, lebendige Architektur. Es macht beispielsweise in vielen Fällen keinen Sinn mehr, die Nutzung eines Gebäudes im Vorfeld engmaschig zu definieren. Bei einem Änderungsintervall von gerade einmal 20 Jahren kann man sich von der chronologischen Planungspraxis – Definition von Nutzung, Erstellen eines maßgeschneiderten Raumprogramms, Vorentwurf, usw. – getrost verabschieden. Genau dieser starre Planungsprozess führt Gebäude oft an den Rand des Abbruchs, da sie nicht mehr nachgenutzt werden können bzw. nie nutzungsoffen geplant wurden. Heute muss man sich flexibler, paralleler und guerillahafter in der Planung verhalten.

Wann ist es sinnvoller, doch neu zu bauen?

Vorweg: Der Erhalt von Gebäuden ist in den allermeisten Fällen die erste Wahl und mit gutem Willen auch fast immer möglich. Selten gibt es aber auch bei uns Projekte, für die ein Neubau Sinn macht. Der Autopalast in Salzburg ist ein gutes Beispiel dafür. Während das Hauptgebäude an der Straße wunderbar nachgenutzt werden kann, sind die alten Baracken im Innenhof aufgrund ihrer Beschaffenheit und Größe nicht zur Nachverdichtung geeignet. An ihrer Stelle entsteht also ein Neubau. Dabei sind uns drei Dinge besonders wichtig: Einerseits bauen wir auf bereits versiegelter Fläche, wir verbrauchen also keinen neuen Boden. Andererseits muss der Neubau den Ort besser zurücklassen als er ihn vorgefunden hat. Im Falle des Autopalasts heißt das, aus einer Asphaltwüste im Innenhof wird eine grüne Oase mitten in der Stadt. Drittens, wenn Neubau, dann im Dienst der innerstädtischen Nachverdichtung, bzw. wenn Siedlungsgrenzen eingehalten und nicht erweitert werden. Wir leben ein glasklares Bekenntnis zu Innenentwicklung vor Außenentwicklung.

„Weiterbauen statt neu bauen.“ – Gibt es ein Smartvoll-Projekt, das besonders für diese Haltung steht?

Im Grunde gilt das durch die Bank für alle unsere Projekte. Die mitunter schönsten Transformationen sind wahrscheinlich die Industriebrachen, die wir mit völlig neuen Nutzungen aus einem oft jahrzehntealten Leerstands-Dornröschenschlaf wieder zurück ins Leben gebracht haben, wie zum Beispiel das Handelszentrum 16 oder die Schokofabrik. Wenn wir unsere Arbeit an den Projekten beginnen, sind sie bereits ein Sinnbild fürs Weiterbauen. Keines dieser Objekte entstand in einem Stück. Es sind über Jahrzehnte gewachsene Strukturen, gebaute Unternehmensgeschichte. Die leerstehenden Hallen weiter zu nutzen und ihnen durch das Weiterbauen einen neuen Lebenszyklus – also einen zweiten Frühling – zu schenken, ist da eigentlich nur logisch. Wir achten bei unserer Planung darauf, die Nutzungsoffenheit zu erhalten oder wieder herzustellen, um das Weiterbauen auch in Zukunft möglich zu machen.

Das Projekt Urban Wildling im Westen Wiens setzt auf die nachhaltige Nachverdichtung einer Brachfläche – was sind die größten Herausforderungen?

Der Urban Wildling ist eines unserer experimentellen Projekte, ein spekulativer Entwurf für bodenschonende Nachverdichtung von urbanen, bereits von der Natur besiedelten Brachflächen. Es gibt also weder einen konkreten Bauplatz, noch eine Auftraggeberin. Im Zentrum stand für uns die Frage, wie wir Biodiversität erhalten und gleichzeitig neuen Wohnraum schaffen können – also ein Spagat zwischen Erhalt von existierender und intakter Biodiversität bei gleichzeitiger innerstädtischer Nachverdichtung. Überdies ist der Urban Wildling ein Modell zur Überwindung der Natur-Kultur-Differenz. Projekte wie dieses sind für uns ein Trainingsfeld zur komplexen Problemlösung und deren ästhetischer Umsetzung. Die größte Herausforderung liegt dann darin, ein virtuelles Projekt in eine reale Umsetzung zu überführen.

Gibt es Grenzen, an denen Wildnis wieder aufhört, willkommen zu sein?

Das diskutieren wir regelmäßig im Büro, wenn sich wieder Tauben in unserem Innenhof niederlassen. So ehrlich muss man sein – wir finden das auch nicht immer super. Am Ende sind Grenzen aber oft Verhandlungssache, und Akzeptanz lässt sich bis zu einem gewissen Grad üben. Wir brauchen ein neues Verständnis des Menschen als Teil eines Ökosystems. In diesem Sinne gilt es auch, die Architektur von einem humanzentrierten Planungsansatz zu einem allgemeineren zu überführen – wir planen für jedes Leben, nicht nur für Menschen.

Sie haben den Service Treff der Wiener Stadtwerke neugestaltet. Wie transformieren Sie die Unternehmenskultur in eine Raumgestaltung, die der heutigen New-Work-Arbeitsweise gerecht wird?

Beim Service Treff geht es primär um Wohlfühlen und auch um Deeskalation, da dort mitunter Menschen mit handfesten Problemen und Herausforderungen hinkommen. Aus diesem Grund haben wir den Grundriss in Ankommen, Runterkommen und Beraten räumlich zoniert. Die Runterkommen-Zone ist ein wahrer Urwald und die Kunden, die dort warten, werden durch das üppige Grün im wahrsten Sinne des Wortes beruhigt. Die Berater haben dort, ähnlich wie Croupiers in einem Casino, einen sehr intensiven Job und wechseln sich regelmäßig ab. Deswegen war es von Anfang an sehr wichtig, dass sich die Mitarbeiter ebenso wohl fühlen wie die Kunden. In diesem Sinne gibt es kein toll gestaltetes Front- und kein niedergespartes Backoffice, sondern eine durchgängige Zone für Kunden wie auch für Mitarbeiter, die auch durchgängig qualitätsvoll gestaltet ist.

Herausforderungen wie die immense Bodenversiegelung und der hohe Ressourcenverbrauch erfordern ein rasches Umdenken. Welche regulatorischen und gesetzlichen Hürden gibt es?

Wir haben im Bereich der Gewerbe- und Industriebrachen österreichweit einen Leerstand, der ähnlich groß ist wie die Fläche von Graz. Diesen Gebäuden ist aber eine Nachnutzung für Sport, Wohnen oder auch eine Schule vorbehalten, weil das altmodische monostrukturelle Widmungskategorien verbieten. Diese Kategorien leiten sich aus der Charta von Athen ab, die demnächst 100 Jahre alt wird, und das Arbeiten vom Wohnen getrennt und die Logistik und damit viel Verkehr hervorgebracht hat. Urbanes Gewerbe ist mittlerweile aber großteils emissionsfrei, und dadurch darf das Wohnen wieder mit dem Arbeiten in einer lebendigen Mischnutzung räumlich zusammenfinden. Hier benötigt es flexiblere und chamäleonhafte Widmungskategorien, die nichts ausschließen, sondern sich nach Bedarf auch einmal anders verhalten können. Nur so kann die Widmung und damit die Nutzung mit der Geschwindigkeit der gesellschaftlich strukturellen Veränderung Schritt halten. Außerdem sollte es endlich eine regulatorisch verankerte und angemessene Bewertung der grauen Energie geben. Bereits verbrauchte Ressourcen müssen entsprechend ins Gewicht fallen, und deren Erhalt muss offensichtliche Vorzüge haben. Momentan ist es dem Energieausweis einfach egal, ob ein Gebäude erhalten wird oder nicht. Im Zuge der Taxonomie und auf uns zukommender C02-Äquivalent-Budgets könnte eine angemessene Bewertung der grauen Energie dem Bestandserhalt einen enormen Stellenwert einräumen. Andernfalls wird der Neubau noch lange als die einfachere Lösung gelten.

Welche Learnings können Sie der zukünftigen Generation von Architekten aus Ihrer eigenen Erfahrung mitgeben?

Wir haben das Gefühl, dass die Klimakrise speziell uns Architekten seit der Moderne vor über 100 Jahren wieder gesellschaftlich relevante und substantielle Mitgestaltungsmöglichkeiten am Silbertablett präsentiert. Diesen Transformationsprozess mitgestalten und begleiten zu können, ist gleichsam wunderschön wie verantwortungsvoll und ebenso sinngebend. Wir denken, dass das genau die elementaren Triebfedern sind, wie man über die gesamte zeitliche Wirkungsspanne Spaß an seinem Beruf hat.

Was müsste sich in der Ausbildung ändern, um kreislauffähiges Denken als Selbstverständlichkeit zu etablieren?

Wir müssen akzeptieren, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, uns alle wieder zu Lernenden machen. Es gibt noch nicht viele Experten auf dem Gebiet des kreislauffähigen Bauens. Wir denken, dass wir gerade im Studium ein Umfeld für mutige Experimente schaffen müssen, die nicht ausschließlich darauf abzielen alles richtig zu machen. So könnten wir gemeinsam generationsübergreifend Lösungen etablieren und die Transformation vorantreiben. Andererseits spüren wir bzw. kann man auch darauf bauen, dass junge Generationen sinnstiftende Arbeiten suchen, da geht sich dann ein Leben lang Zubetonieren schlichtweg nicht mehr aus.

Philipp Buxbaum

Philipp Buxbaum hat gemeinsam mit Christian Kircher smartvoll Architekten gegründet – ein Architekturbüro, das Nachhaltigkeit nicht als Trend, sondern als langfristige Haltung versteht und praktiziert.

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